Lesefutter zum Internationalen Kinderbuchtag

Hein die Schildkröte vom Rhein, Antje Hansen, Psst Hörmal Verlag

Kapitel Eins

Die zweite Sensation

 

Vor dreieinhalb Wochen, an einem klaren nicht zu kalten Januartag, geschah in Köln etwas ganz Außerordentliches: Ein kleines Holzboot trieb rheinaufwärts.

Das musst du dir mal vorstellen. Rheinaufwärts! Das gibt’s doch gar nicht, wirst du jetzt protestierend erwidern, das ist kompletter Blödsinn. Jedes Kind weiß schließlich, dass Boote flussabwärts treiben, aber niemals aufwärts! Das widerspricht allen physikalischen Erkenntnissen; Erdanziehung und so. – Dahinter steckt garantiert ein Trick, ein geheimer Motor oder ein Taucher. – Aber nein, ich versichere dir, es handelt sich um keinen Trick, keinen doppelten Boden, keinen versteckten Antrieb, keine Zauberei.

 

Die zweite Sensation, die aber niemand bemerkte, weil sich alle mit dem aufwärts treibenden Holzboot beschäftigten, war ein kleiner Gegenstand, der auf dem Bötchen lag. Kurz hinter dem Anleger der Personenfähre Krokolino kullerte er in den Rhein, bei Kilometer 677, um genau zu sein. Und während sich Zeitungs-reporter, Radiostationen und Fernsehsender auf das verrückte Boot stürzen, plätschern träge Wellen das weiße ovale Ding ans Rheinufer. Dort verfängt es sich in dem dichten Ufergestrüpp und bleibt unbemerkt liegen. Von weitem ist es von einem ganz normalen Flusskiesel nicht zu unterscheiden.

Jetzt fragst du dich natürlich, was daran so besonders sein soll, denn ich sprach ja von einer zweiten Sensation. – Aber da musst du dich noch ein kleines bisschen gedulden. Moment!

 

Das Boot wird mit einem großen Aufgebot an Wasserschutzpolizei, Feuerwehr und mittels einer Winde geborgen und zu wissenschaftlichen Untersuchungen an das Universitätsinstitut für Physik und andere Ungereimtheiten überstellt. Professor Doktor Knautschdidelpink und seine Assistentin, Frau Doktor Dotter, kümmern sich höchstpersönlich um die Beobachtungen und Auswer-tungen.

„Ich hoffe, dass wir in wenigen Monaten eine Aussage darüber treffen können, welchen Ursprung das unbekannte Schwimmobjekt hat“, sagt der berühmte Professor in einer umgehend anberaumten Pressekonferenz.

 

Einen Tag später schlendert Otto, der zehnjährige Enkel von Oma Wiesengrün, am Rheinufer entlang. Otto ist ziemlich groß für sein Alter. Er kann sich ohne Stuhl und Leiter aus der Keksdose, die auf dem obersten Regal in Oma Wiesengrüns Küche steht, Plätzchen stibitzen. Er hat braune Augen, wuschelige blonde Haare, die in alle vier Himmelsrichtungen abstehen und eine freche Stupsnase, auf der auch im Winter unzählige Sommersprossen sprießen. Mit Vergnügen sammelt er am Rheinufer alles, was nicht niet- und nagelfest ist und wofür sich sonst kein Mensch interessiert: alte Schiffstaue, kaputte Luftpumpen und rostige Fahrradfelgen, mottenzerfressene Teppiche, Flaschen mit und ohne Post, Stöcke, Steine und Muscheln, Plastikliegestühle und Autoreifen. – Treibgut, das vom Hochwasser des Flusses angespült wird, am Rheinufer hängen bleibt und sich, von Otto zusammengetragen, im hinteren Teil des Gartens von Oma Wiesengrün stapelt.

„Was willst du bloß mit dem ganzen Zeug?“, fragt sie und schüttelt resigniert den Kopf. „Otto, mein Garten ist kein Schuttabladeplatz!“

„Oma Wiesengrün, sei keine Spielverderberin. Das sind Schätze! Kein Schutt! Irgendwann mache ich was ganz Tolles daraus. Ehrlich! – Eine Superspezialerfindung oder so. – Guck mal, was ich heute gefunden habe“, erwidert Otto stolz und präsentiert zahlreiche Kronkorken, einen zerbissenen Gummiball und das besagte weiße Ding.

Oma Wiesengrün inspiziert interessiert die Fundstücke. Sie ist eigentlich gar nicht so. Insgeheim findet sie Ottos Freiland-Schatzkammer ziemlich klasse. Tulpen und Rosen hat schließlich jeder im Garten. „Was hast du denn hier Hübsches? Einen Stein? – Nein, das ist kein Stein.“ Sie spuckt in ihren Schürzenzipfel und fährt über die Schlammkruste. Dann setzt sie ihre Brille auf die Nasenspitze und wiederholt nachdenklich: „Nein, auf keinen Fall ein Stein. Eher ein Ei. Ja, ganz eindeutig. Der Größe nach zu urteilen, könnte das ein Entenei sein.“

Kurz entschlossen nehmen die beiden das Ei mit in die Küche. „35 Grad! Das ist nicht zu warm und nicht zu kalt für das Ei!“ Oma Wiesengrün legt es vorsichtig auf den Bratrost und schaltet den Backofen ein.

„Vielleicht haben wir Glück und bald schlüpft ein Küken.“ Otto freut sich. „Wie es wohl aussehen wird?“

Doch die Tage verstreichen ereignislos. Otto wird langsam ungeduldig.

„Verflixt!“, grummelt er schlecht gelaunt beim Abendessen. „Keine Pizza, keine Lasagne, keine Kekse! Und das alles nur, weil dieses blöde Ei den Ofen blockiert!“

„So, so! Kannst du dich noch daran erinnern, wer das Ei angeschleppt hat?“, erwidert Oma Wiesengrün, während sie vergnügt grinsend einen dampfenden Topf Kürbissuppe auf den Tisch stellt. – Ausgerechnet Kürbissuppe!

 

Aber dann passiert doch etwas. Endlich! Genau 26 Tage nach dem Fund, an einem nassen Februartag morgens um halb acht, hören die beiden ein energisches Pochen an der Ofenscheibe. Otto springt vom Frühstückstisch auf. Er schaut in den Backofen, reißt die Tür auf und muss lachen. Auf dem Rost des Ofens balanciert eine winzige knapp mandarinengroße Schildkröte, die Otto mit strahlenden kobaltblauen Augen ansieht.

„Tach auch!“, sagt die kleine Schildkröte freundlich. „Ich bin Hein. Hein, die Schildkröte vom Rhein.“

Oma Wiesengrün rauft sich ihre Silberlöckchen und fällt kurzzeitig in Ohnmacht.

Gut, dass heute Samstag und keine Schule ist, denkt Otto.

 

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